„Made in Germany“ – das deutsche Handwerk, Stolz auf die erfolgreichen Traditionsunternehmen und die deutsche Ingenieurskunst haben dem Slogan zu seiner jetzigen Bedeutung verholfen. Er steht für höchste Qualität und Technologieführerschaft. In Deutschland gefertigte Produkte werden international zu Recht als qualitativ hochwertig und technisch fundiert angesehen. Nicht umsonst existiert der Stereotyp des disziplinierten und genauen deutschen Mitarbeiters, der Regeln und DIN-Normen schätzt. Fundierte Werte und ein hohes Qualitätsverständnis, gepaart mit Ehrgeiz und Affinität zu Richtlinien und Standards prägen das allgemeine Bild.
Provokativ könnte dies auch anders ausgelegt werden, als unnötig kleinlich und detailverliebt.
Traditionsunternehmen besitzen gewachsene Strukturen und Organisationseinheiten, mit denen sie seit vielen Jahrzehnten bestehen, und handeln erfolgreich nach den gleichen Werten und Richtlinien. Sind diese Unternehmen überhaupt in der Lage, dem zerstörerischen Charakter einer Industrie 4.0 Revolution standzuhalten? Zerstörerisch ist in diesem Sinne durchaus als positiv zu sehen. Denn nur, wo Platz für Neues geschaffen wird und alte Denkmuster eingerissen werden, entsteht Platz für Neues: für frische Ideen, ausgereifte Technologien und innovative Geschäftsmodelle.
Digitalisierung verlangt Flexibilität
Gerade die Herausforderungen der digitalisierten und vernetzten Industrie verlangen nach Flexibilität, außergewöhnlichen Ansätzen und Innovationskraft, welche – Konzernen wie Google und Apple sei Dank – tendenziell eher US-Unternehmen zugeschrieben werden, die in den Bereichen Digitalisierung und Technologie stark sind. Auch die Unternehmenskultur ist in US-amerikanischen Firmen anders. Die Strukturen gelten als schnelllebiger und weniger festgefahren.
Der obligatorische Blick über den Tellerrand sowie über Ländergrenzen hinweg zeigt, dass Industrie 4.0 nicht die einzige Plattform ist, die sich mit Themen und Fragestellungen rund um die Digitalisierung und deren Auswirkungen auf die Industrie beschäftigt. Eine weitere große Bewegung ist das Konzept des Industrial Internet, begründet vom Industrial Internet Consortium (IIC) in den USA. Im Rahmen des IIC haben sich über 50 Unternehmen zusammengeschlossen, um gemeinsam an der Erarbeitung von Konzepten und Handlungsempfehlungen zu arbeiten. Auch Standardisierung steht als Thema weit oben auf der Agenda.
Die unterschiedlichen Schwerpunkte der Länder spiegeln sich auch in den Ansätzen und der Herangehensweise wieder, mit den Herausforderungen der Digitalisierung umzugehen. Das Konzept der Industrie 4.0 beschäftigt sich weitgehend mit dem produzierenden Sektor und bietet Lösungen für Fertigung und Industrie. Das IIC hingegen beschäftigt sich verstärkt mit der Findung neuer Geschäftsmodelle.
Im Rahmen des Messe-Forums „Industrie 4.0 meets the Industrial Internet“ auf der Hannover Messe Ende April 2016 wurde ein erstes Zeichen gesetzt, dass die beiden Konzepte nicht getrennt zu betrachten sind. Am 2. März diesen Jahres haben Vertreter der beiden Plattformen in einem Treffen in Zürich eine Zusammenarbeit beschlossen. Dort erarbeitete man eine Roadmap, welche den künftigen gemeinsamen Weg zur Industrie 4.0 spezifiziert. Ebenfalls wurde eine gemeinsame Stellungnahme mit Details zur Zusammenarbeit verfasst.
Hierdurch wird die Expertise beider Bewegungen vereint: Industrie 4.0 mit seinen starken Wurzeln in der produzierenden Industrie und das IIC mit seiner domänenübergreifenden Herangehensweise, genauso wie das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) der Plattform Industrie 4.0 mit Berücksichtigung detaillierter Herstellungsabläufe mit dem Industrial Internet Reference Architecture (IIRA) Modell des IIC, welches mehrere Anwendungsbereiche und bereichsübergreifende Probleme thematisiert.
Anpassung der bisherigen Geschäftsmodelle
Die Veränderungen, welche die Vision hinter „Industrie 4.0“ mit sich bringt, erfordern ein Umdenken und eine Anpassung der bisherigen Geschäftsmodelle. Genau das gestaltet sich jedoch als schwierig – ein bestehendes Geschäftsmodell zu ändern, vor allem wenn man mit diesem aktuell wirtschaftlich erfolgreich ist.
Es fällt unweigerlich eine Diskrepanz ins Auge. Auf der einen Seite steht der Wille der Unternehmen, ‚mitzumachen‘ und sich am Trend und der Bewegung zu beteiligen. Doch auf der anderen Seite fehlt der Mut, den letzten Schritt zu gehen und die notwendigen Veränderungen aktiv zu gestalten. Durch alleinige Optimierung bestehender Prozesse wird es nicht gelingen, die gewachsenen Strukturen großer Konzerne mit dem ganzheitlichen und vernetzten Ansatz der Industrie 4.0 zusammenzubringen. Der Beschluss einer internationalen Kooperation zwischen den Plattformen Industrie 4.0 und dem IIC ist daher sicher als positiv zu bewerten und macht Hoffnung auf mehr.
Laut Dr. Jochen Köckler, Mitglied des Vorstands der Deutschen Messe AG: „Die Hannover Messe 2016 hat gezeigt, dass sich die USA und Deutschland bei der Digitalisierung von Produktion und Energie auf Augenhöhe begegnen. Um Produkte, Maschinen, Industrieunternehmen und Menschen über Länder und Kontinente hinweg zu vernetzen, müssen Technologien und Standards gefunden werden, die universell gelten.“ Jetzt sind also die Vertreter beider Bewegungen gefragt. Globale Standards zur Interoperabilität müssen gefunden sowie ein einheitliches und gemeinsames Verständnis der neuen Industrie muss definiert werden.
Fragen zu diesem Beitrag beantwortet gerne Tobias Häuptle, Managing Consultant, Teamleiter Digitale Fabrik, Innovation & Product Lifecycle Management.